Was es für mich bedeutet, am Rande des Patriarchats zu stehen.

Benedikt
4 min readApr 27, 2021

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Das Gefühl von Ehrlichkeit in mir, wenn ich die Dinge auf den Tisch bringe, bei denen ich gelogen habe, alles in voller Länge und Klarheit — da gibt es keinen vergleichbaren Zustand.

Zu wissen, dass das, was bisher als Lüge zwischen uns war, wieder entlarvt auf dem Tisch liegt. Auf dem Tisch liegend, dreht es seine Kreise, unentschlossen was damit passiert. Das Wichtigste ist jedoch, dass beide Seiten es sehen können und die Möglichkeit haben selbstständig und verantwortungsvoll zu entscheiden, was damit geschieht. Die Lüge, sie hat sich eingeschlichen. Die Frau, die ich gerade kennen gelernt habe, fragte mich: „Hast du deine Dating App in letzter Zeit noch benutzt?“ In mir kroch Angst hoch, Angst vorm Teilen was wahr ist. Wir sind gerade in einer so schönen Komfort Zone. Das hat doch nichts zu bedeuten, ich hab nur ein wenig geswiped weil mir langweilig war und ist doch nun wirklich total egal. In diesen Millisekunden tauchen große Dinge auf. Es geht um

Verlassen werden,

Konfrontation,

ehrliches Teilen.

Es bleibt bei den Millisekunden. Denn wenn ich noch länger warte, merkt sie etwas und so formt mein Mund die Antwort, die genau diese Dinge verhindert. Weil es so einfach ist und mich in meiner Komfort Zone lässt. Ob ich meine Dating App in letzter Zeit genutzt habe? „Nein“, schön! Bestätigung und Sicherheit im Gesicht der Frau. Dann können wir uns ja jetzt ins Bett legen, in unsere Komfort Zone. Ein paar Stunden später bin ich wieder alleine. Ich öffne die Dating App und ich verstehe es nicht. „Wieso habe ich diese App eigentlich benutzt, obwohl ich in Kontakt mit ihr bin?“ — App gelöscht, Dankbarkeit dafür, dass sie mich auf dieses swipen aufmerksam gemacht hat. Jetzt ist alles gut. Und dann ist da dieses Stechen. Eine Lüge.

Ich habe diese Frau bisher nicht belogen. Wenn die Frage kam „Wie gehts dir?“ habe ich ehrlich geantwortet. Wenn sie sagte „Du redest so viel über deine Ex-Freundin, hast du mit deiner alten Beziehung abgeschlossen?“ habe ich das erstmal kurz sacken lassen. Ich habe mich zentriert, bin reingegangen und hab geteilt was gerade bei mir in diesem Moment präsent war. Bisher war ich nackt, ich hatte diese Verbindung mit ihr — rein und klar. Jetzt ist er da, der erste Schleier. In den Startlöchern dahinter, perfekt glatt gebügelt und schön zusammengefaltet, liegen schon die Nächsten bereit. In diesem Moment werde ich mir meiner hellen Prinzipien bewusst. Dinge, die ich in die Welt tragen will. Liebe, Klarheit, Gemeinschaft, Kreativität, Freundschaft. Sie kommen, nachdem sie den wartenden Schleiern einen kräftigen Tritt in den Arsch verpasst haben, auf mich zu. Sie fragen:

„Was wäre, wenn du uns dieses mal ein Stück weiter in die Welt bringst, als bisher geschehen?“

„Interessant. Unbekannt. Es wird die Komfort Box, in der ich mich befinde, sprengen.“

„Aber du stehst doch auf Feuerwerk?!“

„…so habe ich das noch gar nicht gesehen.“

Was anderes kommt für mich auf einmal nicht mehr in Frage. Ich habe Angst, weil ich nicht weiss, wie sie reagieren wird, wenn ich von meiner Lüge erzähle. Ich habe Angst, weil ich Geschichten darüber erfinde, was sie wohl darüber denken und fühlen wird. Es gibt aber keine Alternative mehr in meinem Kosmos. Denn genau das ist es, was ich erleben will. Meine hellen Prinzipien in Aktion. Es gab diesen Moment, wo meine Komfort Box schneller war als meine hellen Prinzipien. Ok, was passiert ist, ist passiert. Jetzt habe ich die Möglichkeit was zu ändern.

Freude. Ich bin total verrückt. Es ist doch schon längst abgehakt und jetzt will ich diese kleine Lüge wieder in den Raum bringen und damit vielleicht alles zerstören? Oh ja, und es fühlt sich grandios an dies zu beschliessen. Denn: es gibt keine Alternative. Der Schleier ist da. Und was zum Teufel will ich mit einem Schleier wenn ich doch in vollem Kontakt, Haut auf Haut, mit dieser Frau sein will?

Ein paar Tage später sehen wie uns wieder. Wir mögen uns, es wird in kurzer Zeit viel gelacht und dann nutze ich meine Wut, denn länger warten sollte ich nicht… da ist es nun, alles auf dem Tisch. Ausgekotzt, Klarheit — geiles Teil diese Klarheit.

Das war der letzte Abend an dem Küsse und Intimität den Raum zwischen uns erfüllt haben. Traurigkeit darüber, dass diese Verbindung nicht mehr an Intimität erfährt. Und wieder Freude, denn ich bin mit all dem gewesen was bei mir präsent war.

Der verbrannte Schleier hat kleine Narben auf unserer Haut hinterlassen. Das ist ok.

Verlassen werden, Konfrontation, ehrliches Teilen — Dinge, die vor mir stehen, wenn ich mich dazu entscheide das Patriarchat zu verbrennen.

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